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Berührung – Spiegelung

Das Innen und Außen des Selbst – das Innen und Außen der Wahrnehmung.

Berührung zwischen zwei lebenden Wesen erzeugt einen Impuls, der auf Körper, Geist und Seele aktiv und passiv wirkt, Berührung nimmt das Selbst und das Andere wahr und wird wahrgenommen. Sie ist der einzige Sinn der doppelt wechselseitig und gleichzeitig ist. Nur im Moment der Berührung verzichtet der Dualismus auf den Raum zwischen Subjekt und Objekt, der sonst seine ureigene Bedingung ist.

Der Tastsinn ist am gesamten Körper angesiedelt ist, er umfasst uns jederzeit. Eine Tastkunst hat sich nicht entwickelt, unsere Kultur lehrt den Unterschied zwischen Geräusch und Musik, zwischen Bewegung und Tanz, zwischen Schauen und Betrachten, aber sie lehrt nirgends einen Unterschied zwischen Anfassen und einem künstlerischen Berühren.

Gesine Braun schafft Bilder des Berührens. Sie fotografiert Begegnungen von Menschen miteinander, sie beobachtet den physischen Ausdruck ihrer Beziehung zueinander, den physischen Ausdruck von Gruppen, mitunter auch Beziehungen zwischen Mensch und Tier. Sie spürt der Sensation von Kontakt nach, dem contangere, dem Zusammenberühren. Die ebenso konzentrierten wie sinnlichen Bilder zeigen, dass Berührung mehr ist als Nähe, sie ist ein Erreichen. In dem alten Wort „anlangen“ für ankommen ist dieses Phänomen in der Sprache präsent.

 Mit diesen Fotografien erzeugt sie nach Roland Barthes zunächst eine „Schuppe der Wirklichkeit“ und damit in ihrer Teil-Haftigkeit eine Art Lüge. Jedoch, auch die Schuppe der Wirklichkeit kann eine mit Wahrheit gefüllte Kapsel von Zeit sein. Das sichtbare Abbild der Berührung macht diese Berührung nicht fühlbar, aber auch nicht ungeschehen.

 Gesine Braun führt diese Fotografien in den blauen Raum der Cyanotypie.

Die Cyanotypie ist eine Kontakkopie, das Negativ des Bildes wirft einen Schatten auf den lichtempfindlichen Träger, die Sonne erzeugt bei Belichtung der kristallinen Lösung ein Blau. Die Bilder tauchen ein in eine wässrige Ferne, sie tauchen auf, aus einem Ozean der Vergangenheit. Die Abgebildeten, die sich einander Berührenden verbinden sich in diesem unscharfen, endlosen Raum mit der zeitlosen Gültigkeit der Möglichkeit menschlicher Nähe.

 Die Künstlerin bleibt außerhalb dieses Raumes und ermöglicht ihn. In der Spanne dieses Gegensatzes ereignet sich das Einsame und Einzigartige des betrachtenden Blickes und die dadurch entstehende Gemeinsamkeit an Allem, was dieser Blick betrachtet. 

Spiegelung wirft Bilder kontaktlos zurück und vertauscht dabei vorne und hinten. Das Abbild im Spiegel steht umgekehrt im imaginären, unbetretbaren Raum.  Und doch vermeint man, sich im Spiegel zu erkennen. In ihren Spiegelarbeiten, Objekte und Installationen, entlarvt Gesine Braun das scheinbar klare Abbild und zeigt den Schauenden die Unvollkommenheit der blanken Reflektion, die sich allein auf das Äußere beziehen kann. In der Erkenntnis dieser Unvollkommenheit wohnt die Frage danach, was fehlt. Wo ist das Selbst, wie kann es wahr genommen werden.  Nur die physische Präsenz spiegelt sich physikalisch, das alles umfassende Selbst existiert ortlos oder in einem Raum, der es selbst ist, von dem wir nur die Ein- und Ausgänge kennen.

Die Ellipse, eine häufige Form im Werk von Gesine Braun, erinnert an eine selten gewordenes Bild- und Rahmenformat. Besonders Spiegel wurden oft elliptisch geschnitten. Die Herkunft des Wortes Ellipse birgt den Zusammenhang zum Ausschnittcharakter des Spiegelbildes als zurückgeworfenes Porträt, denn Ellipse bedeutet zuerst Mangel als Auslassung ohne Verlust.

Die Farbe Schwarz war lange Begleiterin von Gesine Brauns spiegelnden und elliptischen Erforschungen. Jedes Licht absorbierend, nichts zurückwerfend, ist Schwarz die alles beinhaltende Möglichkeit, die sich ununterbrochen weiter anreichert und damit der wahrscheinlichste Ausdruck einer Vorstellung des Selbst.

 

Sabrina Hohmann, 2024